Im Rahmen der Aktivitäten zum Antikriegstag und der Rheinmetall-Entwaffnen Aktionstage haben wir einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit verschiedenen „linken Fallstricken“ im Umgang mit dem Ukraine-Krieg verfasst.
In den ersten Wochen des Ukraine Krieges hat die Linke in Deutschland wie erschlagen gewirkt. Es gab zwar lokale Aktionen gegen den Krieg, eine wirkliche Klarheit über die Stoßrichtung der Ansätze und die Ablehnung jeder Kriegsbeteiligung blieb in weiten Teilen aber aus. Teilweise liefen Proteste gemeinsam mit bürgerlichen Parteien von den Grünen hin bis zur CDU. Mit ihren Forderungen nach Waffenlieferungen für die Ukraine waren das eher Proteste für den Krieg und hatten mit linken, antimilitaristischen Protesten wenig zu tun. Dass die Antikriegs- oder Friedensbewegung in Deutschland schwach aufgestellt ist und kaum in größere Teile der Gesellschaft hineinwirkt, ist kein Geheimnis und zeigt sich auch am dröhnenden Schweigen der deutschen „Zivilgesellschaft“ angesichts des türkischen Krieges gegen die Revolution in Rojava. Doch wie groß und breit die Verwirrungen innerhalb der deutschen Linken in Bezug auf den Ukraine-Krieg sind und welche grundsätzlichen Positionen plötzlich von heute auf morgen über den Haufen geworfen werden, hat dann doch überrascht.
Dass breite Teile der linken Bewegung sich nicht gegen Waffenlieferungen an den ukrainischen Staat positionieren, in Teilen sogar gefordert wird, die russische Bevölkerung mit Sanktionen ausbluten zu lassen, zeigt, wie stark es an Klarheit fehlt. Andere wiederum verstehen den deutschen Imperialismus zwar als Hauptfeind, versuchen aber – mal mehr, mal weniger offen – den Einmarsch Russlands in die Ukraine zu legitimieren und stellen sich hinter das kapitalistische Russland in seinem Kampf gegen die westlichen Imperialisten. Hinzu kommt die Position der Pazifist:innen, deren Linie gegen den Krieg den Klassenwiderspruch in den Hintergrund drängt und die Beantwortung der Frage der politischen Macht ganz den Herrschenden überlässt.
Waffen für die Ukraine…
Dass Deutschland die Ukraine um jeden Preis mit (schweren) Waffen unterstützen müsse, ist unangreifbarer Konsens in bürgerlicher Politik und Medien. Auch Teile der linken Bewegung springen auf diesen Zug auf. Entweder werden ganz offen Waffenlieferungen an die Ukraine unterstützt oder es wird vermieden sich überhaupt zu dem Thema zu äußern. Das unbestreitbare Recht der Bevölkerung auf eine bewaffnete Verteidigung gegen den russischen Einmarsch wird dabei verwechselt oder vermischt mit der Frage der strategischen Kriegsführung der westlichen Kriegsparteien. Die Waffenlieferungen sind wesentlicher Teil davon, den Krieg auf ukrainischem Boden zu einem langangelegten Stellvertreterkrieg des NATO-Blocks gegen Russland zu entwickeln und die politischen Kräfteverhältnisse in der Ukraine in diesem Sinne zu festigen. Das Gleichsetzen der Selbstverteidigung mit westlicher Intervention, ohne kritische Betrachtung der konkreten nationalen Machtverhältnisse, ist gefährlich. Die Frage wieviel Einfluss die betroffenen Teile der ukrainischen Bevölkerung auf eine von NATO-Staaten befeuerte Kriegsführung der völligen Eskalation haben, deren negativen Auswirkungen alleine sie zu bezahlen haben, stellt sich auf diese Weise nicht. Auch nicht die Frage, ob andere Formen von (bewaffnetem) Widerstand und Sabotage möglich wären, die tatsächlich Gegenmacht aus der Bevölkerung entwickeln könnten, ohne sich der momentan hegemonialen Front aus westlich gepolten ukrainischen Oligarchen, NATO-Strategen und faschistischen Kräften im Militär unterzuordnen.
Die Frage der Waffenlieferungen einfach nicht zu thematisieren und nicht zu beantworten erscheint einigen als Möglichkeit, unangenehme Widersprüche zu umgehen – um nicht fälschlicherweise als Putin-Freund:innen gebrandmarkt zu werden, oder die Solidarität mit der unter dem Krieg leidenden ukrainischen Bevölkerung nicht in Frage zu stellen. Es sei ja schließlich auch an anderen Punkten möglich, den deutschen Militarismus und den reaktionären Charakter des kapitalistischen ukrainischen Staats zu kritisieren. Es muss klar sein, dass das allerdings auch bedeutet, einen wesentlichen Grundstein der NATO-Kriegsführung in diesem blutigen Konkurrenzkampf zwischen den Machtblöcken zu legitimieren und als mögliche „Lösung“ anzuerkennen.
Wer sich der Doktrin der Waffenlieferungen – gerade aus einem NATO Staat wie Deutschland heraus – nicht entgegenstellt, wird Probleme haben, die eigentlichen Interessen von starken Teilen des „eigenen“ deutschen Kapitals an der Kriegseskalation herauszuarbeiten und dagegenzuhalten. Genauso verunmöglicht dieser Standpunkt eine klare Position auf der Seite der Lohnabhängigen in der Ukraine, die aktuell einem tobenden Klassenkampf von oben gegenüberstehen, der unter den Vorzeichen der Kriegsmobilisierung Vernichtungsschläge gegen Arbeiter:innenrechte, politische Opposition und Gewerkschaften vollzieht.
Andere Teile der radikalen Linken in Deutschland, die sich mit den ukrainischen Anarchist:innen solidarisieren, die voll und ganz im Krieg der ukrainischen Armee aufgehen, begeben sich in ein ganz besonderes Dilemma. Während der Kampf gegen jede Form von Herrschaft im Allgemeinen von ihnen zur absoluten Maxime erhoben wird, unterstützen sie in der Ukraine die Kräfte, die Seite an Seite mit Faschist:innen für einen immer repressiver werdenden kapitalistischen Nationalstaat kämpfen. Und nicht nur das: Sie kämpfen an einer Front, die von starken Teilen des deutschen Imperialismus mitaufgebaut wird – weil Russland als aktueller Hauptfeind verstanden wird.
Um es nocheinmal deutlich zu sagen: Sich der russischen Besatzung bewaffnet entgegenzustellen ist nicht das Problem – der Zugang zu Waffen und ein selbstorganisierter Schutz der Bevölkerung, sind zweifellos wichtige Elemente für den Aufbau revolutionärer Kräfte in Kriegssituationen. Das Problem ist, die absolut gegensätzlichen Interessen zwischen der kriegsgebeutelten Bevölkerung und linken Kräften auf der einen Seite und Faschisten, NATO, und neoliberaler Regierung auf der anderen Seite in der Situation des Krieges völlig zu ignorieren – um stattdessen den Hauptfeind außerhalb zu verorten. Und das in einer Situation der Schwäche linker Kräfte, in der es ganz offensichtlich vor allem organisierte Faschisten sind, die nachhaltig von ihrer Rolle in der Landesverteidigung profitieren.
Ganz anders gestaltete sich die Situation in Rojava im Nord-Osten Syriens, wo kurdische Revolutionär:innen 2012 die Bürgerkriegssituation nutzten, um eine demokratische Selbstverwaltung aufzubauen und sie bis heute mit eigenen politisch-militärischen Strukturen verteidigen.
Ein etwas zugespitzer Vergleich: Warum haben die wenigsten radikalen Linken im Krieg gegen den IS deutsche Waffenlieferungen an Rojava gefordert, obwohl das doch zweifellos eine große Hilfe für die kämpfenden Freund:innen und Genoss:innen gewesen wäre? Weil den meisten Internationalist:innen klar war, dass die Regierung des imperialistischen Deutschlands kein Interesse daran hat, ein revolutionäres Projekt wie Rojava zu unterstützen, auch wenn die aufopfernde und effektive Rolle der Revolutionär:innen in der Anti-IS-Koalition phasenweise auch den eigenen Interessen entsprach. Es ist kein Zufall, dass deutsche Waffenlieferungen und militärische Ausbildung durch die Bundeswehr in dieser Situation den türkeinahen und pro-amerikanischen Kräften der KDP Regierung der Autonomen Region Kurdistan im Irak zukamen und eben nicht den Revolutionär:innen in Rojava. Auch eine sehr breite Solidaritätsbewegung hätte die Bundesregierung vermutlich nicht dazu bringen können, Waffen an ein revolutionäres Projekt zu liefern. Wenn das geschehen wäre, dann nur weil das deutsche Kapital mit den Waffenlieferungen auch eigene Interessen in diesem strategisch bedeutenden Teil des Nahen Osten verwirklichen wollte und damit auch den revolutionären Charakter des Projekts in Frage gestellt hätte. So sehr wir die weitere Bewaffnung der ständig von Außen bedrohten Revolution in Rojava auch befürworten, so skeptisch hätten wir doch hinsichtlich deutscher Waffenlieferungen bleiben müssen.
Die gleiche Skepsis gegenüber Waffenlieferungen wäre im Fall der Ukraine mehr als angebracht, zumal uns dort aktuell keine revolutionären Kräfte bekannt sind, die Waffen für den Aufbau einer Gegenmacht von unten einsetzen könnten. Von Waffenlieferungen an die Ukraine profitieren nicht nur ganz unmittelbar die Herrschenden in Deutschland weil die hiesige Kriegsindustrie damit fette Profite einfährt, sondern – soweit wir das beurteilen können – aktuell in erster Linie die Kräfte in der Ukraine, die den reaktionären Rollback in dem Land weiter forcieren werden.
…Solidarität mit Russland…
Auf der anderen Seite stehen die Russland solidarischen oder zumindest Russland unkritischen Teile der deutschen Linken. Sie betonen den angeblich fortschrittlichen Charakter der Volksrepubliken in Luhansk und Donezk und begreifen die russische Militärintervention als legitimen Schritt zur Verteidigung dieser Gebiete. Die Argumentation hat einen richtigen Kern, weil dem Einmarsch Russlands ein 8-jähriger Bürgerkrieg der ukrainischen Streitkräfte gegen die abtrünnigen Gebiete vorangegangen ist, in dem nach UN-Schätzungen 13.000 Menschen getötet wurden, der absolute Großteil auf Seite der Volksrepubliken. Der russische Einmarsch muss auch in diesem Kontext betrachtet werden, weil russische Streitkräfte auf niedrigerem Niveau zwar, aber dennoch durchweg in dem Bürgerkrieg auf Seiten der Volksrepubliken involviert waren und von großen Teilen der Bevölkerung dort als Verbündete betrachtet werden. Dass es allerdings prorussische Oligarchen mit teils äußerst reaktionärem Einschlag sind, die diese Gebiete kontrollieren, ist für den Charakter der Republiken wesentlich, auch wenn es dort durchaus antifaschistisch und kommunistisch orientierte Einheiten gibt, die am Krieg gegen die ukrainischen Streitkräfte beteiligt sind.
Auch die „Entnazifizierung“ der Ukraine erscheint einigen als legitimes Kriegsinteresse Russlands. Das hat angesichts der starken militärischen und paramilitärischen faschistischen Strukturen in der Ukraine, die den Bürgerkrieg besonders aktiv vorangetrieben, angesichts des aufblühenden geschichtsrevisionistischen ukrainischen Nationalismus und verschärfter rassistischer, vor allem antirussischer, Gesetze, ebenfalls einen wahren Kern. Allerdings hat diese politische Situation, in der Faschisten eine nicht zu unterschätzende Rolle einnehmen, eine ganz andere Qualität, als ein Staat, der von Nazi-Faschisten beherrscht wird, wie es die Rede von „Entnazifizierung“ nahelegt. Die politische Hegemonie in der Ukraine wird nach wie vor von neoliberalen, prowestlichen Geschäftemachern organisiert, die gerade aktuell im Krieg den Nationalismus und die fanatischen Kampfverbände von rechtsaußen ganz gut gebrauchen können. Die angebliche „Entnazifizierung“ durch Russland bewirkt nicht nur das genaue Gegenteil ihrer vermeintlichen Zielsetzung, indem sie den nationalistischen Kräften aktuell zu einem besonderen Aufschwung verhilft, sie ist auch deshalb eine Farce, weil der russische Staat selbst mit faschistischen Kräften wie der Söldnerstruktur „Wagner-Gruppe“ operiert und seine antifaschistischen Bemühungen genauso auf die berüchtigten mordlüsternen Nazigruppierungen im eigenen Land konzentrieren könnte, anstatt die wenigen antifaschistischen Strukturen, die es im Land gibt, mit Terrorismusvorwürfen zu überziehen und zu verfolgen.
Die Sicherheitsinteressen Russlands und die Defensive, in der sich Russland geostrategisch betrachtet im Vergleich zur NATO befindet, ist sicherlich das Hauptargument, aus dem die Legitimität oder Notwendigkeit einer Solidarität mit Russland abgeleitet wird. Fakt ist, dass die Aufnahme der Ukraine in die EU tatsächlich den Abbruch des russischen Einflusses auf die Politik des Landes bedeutet und auch die Bewegungsfreiheit des russischen Kapitals dort massiv eingeschränkt hätte. Nebenbei: Mit dem Versuch der exklusiven EU-Assoziierung wurde auch die relative Souveränität des ukrainischen Staates in besonderer Weise vom Westen angegriffen: Weil ukrainische Regierungen immer dann eine relative Stärke / Souveränität entwickeln konnten, wenn sie in der Lage waren, einen eigenen Weg einzuschlagen, um sowohl die Vorteile des russischen, als auch die des westlichen Einflusses zu nutzen, ohne sich ganz auf eine der Seiten schlagen zu müssen.
Auch wenn der Beitritt der Ukraine zur NATO wegen des Bürgerkriegs im Osten nie eine realistische Option war, war schon das ständige Bitten der Ukraine um die Aufnahme eine Kampfansage an Russland, dem die NATO dann tatsächlich bis in den eigenen Hinterhof vorgerückt wäre. Russland hat den Krieg gegen die Ukraine aus einer Position der Schwäche und der Defensive gestartet, das ist richtig. Richtig ist auch, dass Russlands Interessen in der Ukraine spätestens seit 2014 vom Westen massiv angegriffen wurden. Wichtig ist dabei aber auch zu verstehen, dass es nicht um die Interessen der russischen und erst recht nicht der ukrainischen Arbeiter:innen ging. Wenn das russische Kapital in der Ukraine weniger Spielraum hat, schadet das in erster Linie den russischen Kapitalist:innen. Nicht die Bevölkerungsteile, die sich eher Russland zugehörig fühlen, oder gar Arbeiter:inneninteressen werden in der Ukraine verteidigt, sondern die Einflusssphären der herrschenden Klasse Russlands. Wie sich die Kampfsituation der Arbeiter:innen in den Betrieben und in der politischen Öffentlichkeit unter russischer oder ukrainischer Kontrolle unterscheidet, steht auf einem anderen Blatt – „gut“ sind die Aussichten in keinem Fall.
Ein besonderer Aspekt der aktuellen Mobilmachung gegen Russland ist zweifellos der Antikommunismus. Indem der russische Staat mit der historischen Sowjetunion gleichgesetzt, oder als dessen Fortführung begriffen wird, werden alte Feindbilder aufgewärmt und die Situation genutzt, um jede positive Erinnerung und Bezugnahme auf die sozialistische Vergangenheit zu diffamieren und auszulöschen. Das hat mit der Zerstörung und Schändung von sowjetischen Denkmälern und den Verboten sowjetischer Symboliken in verschiedenen europäischen Staaten auch ganz praktische Folgen. Diesen Angriff auf die sozialistische Geschichte abzuwehren ist wichtig, nicht zuletzt auch, weil sie zusammen mit der Rehabilitierung faschistischer Heldenfiguren wie Stepan Bandera in der Ukraine ein gefährliches Potenzial freisetzt. Die Verteidigung des heutigen russischen Staates ist dabei aber alles andere als hilfreich: Während die Sowjetunion in der russischen Propaganda heute zu einer Phase erfolgreicher russischer Großmachtpolitik umgedeutet wird, werden ihre revolutionären Wurzeln, zu denen neben der proletarischen Machtübernahme und den Versuchen einer neuen proletarischen Demokratie auch der Ansatz einer eigenen ukrainischen Nation innerhalb des sozialistischen Verbundes gehört hat, von Putin höchstpersönlich verächtlich gemacht und abgelehnt. Es ist vielmehr das russische Zarenreich, das von den Bolschewiki 1917 erfolgreich zerstört wurde, das den historischen Bezugspunkt der heutigen russischen Kriegspolitik darstellt.
Linke, die sich solidarisch mit Russland zeigen – egal ob diese Solidarität taktisch begründet wird oder nicht – rücken den kapitalistischen Charakter des russischen Staates und seine Versuche, politisch-militärische Kontrolle über seine regionalen Einflusssphären zu gewinnen in den Hintergrund, während sein Widerspruch zum EU- und US-Imperialismus im Fokus steht. Diese Priorisierung richtet den Blick nicht auf die besonderen Klassenwidersprüche, die Kämpfe und Interessen des russischen Proletariats und interessiert sich noch weniger für den Antagonismus zwischen revolutionärer Bewegung und kapitalistischem Staat. Uns ist nicht klar, welchen Sinn eine solche Blickrichtung für die Untersuchung und Entwicklung von Klassenkämpfen und proletarischer Gegenmacht haben soll.
Die vergleichsweise ökonomische Schwäche und die besondere historische Entwicklung des russischen Kapitals, das sich erst durch den Raub und die Ausplünderung von ehemalig sozialistischem Staatseigentum herausbilden konnte, lässt sicher darauf schließen, dass sich diese kapitalistische Macht nicht einfach mit den alteingesessenen NATO-Imperialisten gleichsetzen lässt. Das zu beachten ist wichtig, hat jedoch wenig mit Solidarität für einen kapitalistischen Staat zu tun.
…oder Frieden um jeden Preis?
Im Zuge des Ukraine Krieges sind viele, die zuvor Krieg und Waffenlieferungen abgelehnt hatten auf die Seite der Kriegstreiber:innen gewechselt. Und doch gibt es noch Einige, die sich strikt gegen jeden Krieg und jeden Einsatz von Waffen positionieren. Die Begründung dieses Ansatzes liegt meistens in der moralischen Ablehnung von Krieg und Gewalt, die auch historisch mal stärker, mal schwächer, in linken Bewegungen prägend war. Gerade in der aktuellen Stimmung der Kriegsbegeisterung in Deutschland hat diese Position keinen einfachen Stand.
In ihrer Analyse lassen die Pazifist:innen jedoch wichtige Faktoren außen vor und kommen so trotz starker moralischer Standfestigkeit nicht über die Passivität von Forderungen und symbolisierter Ablehnung hinaus. Wer „Die Waffen nieder“ fordert und an die Vernunft der Kriegstreibenden appelliert, der kann die Unvernunft und die Irrationalität der kapitalistischen Profitmaximierung und Machtausdehnung, die der Motor hinter der imperialistischen Kriegstreiberei ist, nicht mit einbeziehen. Es ist wenig gewonnen, wenn die Gier, die Unmenschlichkeit, der Machthunger oder auch der Irrsinn einzelner Personen dann als Gründe für Kriege übrigbleiben. Diese Faktoren können zwar durchaus Einfluss auf die Ausgestaltung bestimmter Kriege haben, sind aber eben nicht deren Ursache und auch kein sinnvoller Ansatz für breite Kämpfe gegen die Kriegstreiberei. Bei der Bestimmung handfester (Kapital-)Interessen hinter Kriegen, wie dem in der Ukraine, sieht das anders aus.
Was die pazifistische Position darüber hinaus nicht ausreichend ergründen kann, ist, dass „Frieden“ innerhalb der herrschenden Verhältnisse immer nur eine Momentaufnahme sein kann, während der Krieg die Kontinuität bildet: Konkurrenzkriege der Herrschenden innerhalb und zwischen kapitalistischen Staaten und Klassenkämpfe, die das Potenzial zu Bürgerkriegen zu werden in sich tragen, gehören zur Natur des Kapitalismus. Gleichzeitig markieren sie seine Bruchstellen. Das heißt, dass es zu kurz greift, den Krieg an sich zum Problem zu machen. Es heißt anzuerkennen, dass es verschiedene Formen des Krieges gibt. Neben denen, die die Gefahr bergen, die kriegerische Normalität soweit auf die Spitze zu treiben, dass der Untergang der Menschheit in der Barbarei droht, gibt es eben auch solche Kriege, die einen Bruch mit dem Kapitalismus und die Überwindung des ständigen Kriegszustandes ermöglichen können.
Die Losung „Krieg dem Krieg“ ist in diesem Sinne nicht nur eine besonders radikal klingende Ablehnung der imperialistischen Raubzüge, Besatzungen und Konkurrenzkämpfe. Sie beinhaltet auch, nach den Formen und Mitteln zu suchen, mit denen der Klassenkrieg gegen die Herrschenden möglichst erfolgreich geführt und letzten Endes gewonnen werden kann.
Kein Frieden ohne Revolution!
Der Kapitalismus befindet sich aktuell in einer tiefgehenden wirtschaftlichen und politischen Krise. Ihre Ursache ist die Überproduktion oder Überakkumulation von Kapital, die sich in den letzten 50 Jahren in verschiedenen Phasen entwickelt hat. Die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Entwicklung sind dabei eng gesteckt: Die Herrschenden haben die Welt weitestgehend unter sich aufgeteilt, die „neuen“ Märkte die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Osten für Kapital zugänglich wurden, wurden zum Großteil schnell vom Westen besetzt und ausgeplündert oder sind, wie im Fall von Russland, nicht mehr einfach zugänglich für westliches Kapital. Es fällt den Kapitalist:innen immer schwerer ihr massiv angehäuftes Kapital gewinnbringend anzulegen, weshalb regelmäßige Überproduktion auf den bestehenden Märkten und die Erschließung immer neuer gewinnbringender Märkte und damit auch die zunehmende Verwertung menschlicher Lebensbereiche ein prägender Charakter des aktuellen Krisenmodus sind. Eine Folge dieser Krisentendenz ist außerdem ein scharfer Klassenkampf von oben, der sich in aktuellen Angriffen auf die Lebensbedingungen der Arbeiter:innen ausdrückt. So wird vom Bund der deutschen Industrie die Anhebung der Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden vorgeschlagen und über Streikverbote diskutiert.
Diese Krise verhindert auch, dass nicht einmal im Angesicht der immer drastischeren Klimakrise der Ausbeutung der Umwelt ein Riegel vorgeschoben werden kann. Politisch ist die Krise deshalb, weil immer offensichtlicher wird, dass die bürgerlichen Parteien kaum noch Möglichkeiten haben, wenigstens kurzfristige Lösungen anzubieten.
Vor allem führt die Krise aber dazu, dass Kapital zum einen immer riskanter und spekulativer angelegt wird und dass die einzelnen Kapitalfraktionen immer aggressiver um ökonomische Zugänge und Kontrolle über strategisch relevante Einflusssphären konkurrieren – wie beispielsweise in der Ukraine. Das Mittel Krieg wird für die Herrschenden eine immer annehmbarere Option, auch wenn dabei immer höhere Risiken eingegangen werden müssen. Größere kriegerische Interventionen der einzelnen Machtblöcke wie der Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten in den Irak und in Afghanistan oder die russische Beteiligung am syrischen Bürgerkrieg waren in den letzten Jahren schon üblich. Gerade in Syrien zeigte sich schon die Tendenz, dass sich dabei die kapitalistischen Konkurrenten auch direkt gegenüberstehen. In diesem Fall das NATO-Mitglied Türkei und Russland, auch wenn dabei eine höhere Eskalation nicht zwangsläufig ist.
Dass Russland und der „Westen“ jetzt in der Ukraine beinahe direkt gegeneinander Krieg führen, ist die Fortführung dieser ständigen Kriege im Großen. Und die Ukraine ist längst nicht das einzige Land, in dem das Säbelrasseln der kapitalistische Großmächte zu eskalieren droht. Mit den US-Provokationen in Taiwan und den scharfen chinesischen Antworten ist bereits der nächste Konflikt in Aussicht – dieses mal zwischen den beiden Großmächten China und USA um die Vorherrschaft über die wichtigen Handelsrouten im südchinesischen Meer und im Pazifik. Die immer stärkere Aufrüstung in Deutschland, das 100 Milliarden Paket der Bundesregierung für die Bundeswehr und die mediale Stimmungsmache für eine stärkere deutsche Intervention im Ukraine Krieg müssen auch in diesem Kontext gesehen werden. Die Herrschenden bereiten sich und die Bevölkerung auf kommende Konflikte und ein stärkeres – auch militärisches – Eingreifen Deutschlands weltweit vor. Mit den zunehmenden internationalen Konflikten steigt auch die Gefahr einer völlig irrationalen Eskalation, z.B. durch den Einsatz nuklearer Waffen – bis hin zur existenziellen Bedrohung der menschlichen Gesellschaften. Auch wenn allen Seiten sicher bewusst ist, dass ein Atomkrieg keine Gewinner haben wird und niemand an einem solchen Krieg interessiert ist, ist die Gefahr eines Atomkrieges aktuell so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr, weil rationale Abwägungen in der kapitalistischen Kriegslogik nur begrenzt Platz haben.
Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg ist eine vielschichtige und langfristige Angelegenheit, die darauf bauen muss, in all den rund um den Krieg auflodernden politischen, sozialen und ökonomischen Konflikten die Interessen der Arbeiter:innenklasse gegen die Herrschenden und gegen die Interessen des Kapitals herauszubilden und zu einer organisierten Gegenmacht zu formen. Das Ziel kann nicht weniger sein, als der Sturz der Klasse, die mit ihren Regierungen, ihren Konzernen und Manager:innen, ihren Bullen, ihrer Justiz und Militärstrategen das kapitalistische Hamsterrad am Laufen hält und uns von einem Krieg in den nächsten führt.
Diese eigene Positionierung und Formierung jenseits der Logik und der Optionen, die der Kapitalismus anbietet – dieser oder jener Staat, diese Form der wirtschaftlichen Abhängigkeit oder jene Form der kriegerischen Unterdrückung usw. – ist der einzige Ausweg aus dem ewigen Leid und Elend dieses Gesellschaftssystems. Die Möglichkeiten Kämpfe und Gegenmacht in diesem Sinne zu entwickeln finden sich direkt vor unserer Haustüre, wo die „eigene“ Regierung und die „heimischen“ Konzerne in das Kriegstreiben verstrickt sind. Im Gegensatz zur internationalen kapitalistischen Kooperation, die nur taktische und kurzzeitige Bündnisse zur Durchsetzung eigener Interessen gegen Andere kennt, sind wir dabei auf lange Sicht und in unbedingter Solidarität verbunden mit den Genoss:innen und Kolleg:innen, die im gleichen Sinne in anderen Ländern gegen die jeweils „eigenen“ Herrschenden kämpfen – an verschiedenen Fronten gegen ein und dasselbe System.
Letzten Endes geht es darum, auch in den imperialistischen Kriegen revolutionäre Potentiale zu entfalten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Revolution in Rojava. Dort haben sich die revolutionären kurdischen Kräfte im Bürgerkrieg in Syrien, der 2011 ausgebrochen ist, eben nicht auf die eine oder andere Seite gestellt, sondern im Vertrauen auf ihre Kräfte einen eigene revolutionäre Front aufgemacht.
Vor dieser Aufgabe stehen auch wir – auch wenn sich unsere Front erst einmal viel niedrigschwelliger auf der Ebene des politischen Protests und Widerstands sowie der Entwicklung klarer gemeinsamer Standpunkte bewegt. Waffenlieferungen an die Ukraine, „taktische Bündnisse“ mit Russland oder friedlichere, diplomatische, Formen des Imperialismus, sind in jedem Fall keine guten Ratgeber dabei, die eigene, revolutionäre Seite aufzubauen. Wer den Krieg verhindern möchte, muss die Verhältnisse umstürzen die tagtäglich zu Kriegen führen.